Raus aus der Blase
Eigentümer*innenversammlung diskutiert weitreichende und substantielle Beteiligung von Moerserinnen und Moersern in der Stadtentwicklung
Die coronabedingt begrenzten Plätze im W, dem vom Schlosstheater Moers initiierten Zentrum für urbanes Zusammenleben im Wallzentrum, sind gut besetzt. Mehr als 30 Einwohner*innen sind der Einladung des W und des Laboratoriums, eine Bildungseinrichtung von vier Evangelischen Kirchenkreisen am Niederrhein, gefolgt.
Alle Teilnehmer*innen erhalten beim Eintritt ihre Eigentümer*innenurkunde, getreu dem Motto der Veranstaltung: „Eigentümer*innen sind alle (!), nicht nur die wahlberechtigten Bürger*innen, sondern die gesamte Stadtgesellschaft in ihrer Vielfalt und nicht nur die Besitzer*innen von Grund, Boden und Immobilien“.
Verantwortung übernehmen
Per Walter, alias Schauspieler Patrick Dollas, begrüßt als Verwalter alle Eigentümer*innen der Stadt Moers mit dem Hinweis „Sie haben sich entschieden, Verantwortung zu übernehmen! Mit dem Erhalt ihrer Eigentümer*innenurkunde tragen sie nun diese ganz sichtbar in ihren Händen und merken, dass sie gar nicht so schwer wiegt.“
Darum geht es: Wie können Moerserinnen und Moerser Verantwortung für ihre Stadt übernehmen, wie lassen sich neue, innovative Formate einer glaubwürdigen und substantiellen Bürger*innenbeteiligung entwickeln. Dazu lädt der Verwalter die Teilnehmer*innen zum Träumen ein und macht darauf aufmerksam, dass in naher Zukunft mit der geplanten Innenstadtsanierung und den Kanalerneuerungsarbeiten der ENNI die ganze Stadt auf links gekrempelt wird und völlig neue Gestaltungsmöglichkeiten für die Innenstadt bestehen.
In der Stadt zählt jeder, der in der Stadt lebt
Die gemeinsam vom W und dem Laboratorium im letzten Jahr durchgeführte Veranstaltungsreihe „Stadt machen!“ hat bereits viele Anregungen für neue Formen der Bürger*innenbeteiligung vorgestellt. In der Eigentümer*innenversammlung sind die Referent*innen dieser Reihe noch einmal mit einem Videostatement vertreten. So betont Architektin, Stadtplanerin und Professorin für Städtebau Gabu Heindl aus Wien: „In der Stadt zählt jeder, der in der Stadt lebt“. Und dazu gehören nicht nur die, die schon da sind, sondern auch die, die noch kommen, entweder als Neugeborene oder Zugewanderte. Für alle braucht es einen Möglichkeitsraum, gemeinsam Stadt zu gestalten.
Stadtplaner und Stadtforscher Klaus Selle weist nachdrücklich darauf hin: Öffentlichkeitsbeteiligung ist kein „Wünsch Dir was“. Es geht nicht um Einzelinteressen. Man muss sich miteinander verständigen wollen. Notwendig ist eine Haltung zueinander, konstruktiv gemeinsam etwas zur Stadt beizutragen.
Linus Strothmann, im letzten Jahr noch Referent für Einwohnerbeteiligung in Werder an der Havel, ermutigt die Teilnehmer*innen auch in Moers das Instrument von losbasierten Bürgerräten zu erproben. Dazu gehört immer auch ein aufsuchendes Verfahren, das heißt, für diejenigen, die per Los zur Beteiligung am Bürgerrat eingeladen werden, auch faktisch eine Teilnahme zu ermöglichen.
Neben weiteren Referent*innen, die per Video dabei sind, stellt Sandra Punge, Lehrerin an der Anne#Frank-Gesamtschule Rheinkamp, persönlich das Demokratie-Projekt „Mir reichts! Ich gründe eine Partei!“ vor, das in der „Stadt machen!“ Reihe in Kooperation mit dem Schlosstheater und jugendlichen Erwachsenen durchgeführt wurde. Sie plädiert dafür, vor allem die junge Generation an den Stadtentwicklungsprozessen zu beteiligen und so auch einen Beitrag für eine lebendige Demokratie zu leisten.
Auftritt einer extravaganten Person mit beeindruckender Turmfrisur, die sich als „Die Moers“ (alias Schauspieler Patrick Dollas) vorstellt. „Naja, ich bin ja eine alte Dame, und so viel demokratischer, nicht nur demographischer, Aufschwung tut mir gut und wirkt belebend! Vielleicht können die Städte kleine demokratische Rettungsinseln sein! Ich bin ein bisschen in die Jahre gekommen. Aber ich bin doch immer noch attraktiv, oder? Und nicht bereit einfach nur der Alterswohnsitz des Ruhrgebiets zu werden! Das würde mir gewaltig stinken – und nicht nur wegen der Kanalisation!“
Moers verfügt über zahlreiche Konzepte
Die Moers verweist auf die vielen Konzepte insbesondere für die Innenstadtentwicklung, die in den letzten Jahren geschrieben und häufig nicht konsequent umgesetzt oder in ewig langen Beratungs- und Planungsprozessen immer wieder auf die lange Bank geschoben wurden. „Aber wo ist das Demokratiekonzept?“ Die Moers findet zur weiteren Klärung ihren Mann, den technischen Beigeordneten der Stadt Moers, Thorsten Kamp, unter anderem zuständig für Stadtplanung und –entwicklung. Im Interview mit ihm wird deutlich: „Wir müssen aus unserer Blase raus!“.
In der Regel nehmen an den formalen Öffentlichkeitsbeteiligungen immer die gleichen Moerserinnen und Moerser teil – „wir kennen uns hier doch alle“ – oder diejenigen, die jeweils ein bestimmtes Einzelinteresse durchsetzen wollen. Im Hinblick auf die Innenstadt wird es darum gehen müssen, öffentliche Räume zu schaffen, die die Stadtgesellschaft sich aneignen kann, „ohne dass ich mir jedes Mal einen Latte macchiato bestellen muss“.
Es geht um eine zukunftsoffene Planung, um Stadtentwicklung mit menschlichem Maßstab, die sich nicht nur am Konsum orientiert. Ein solcher Stadtentwicklungsprozess ist auch mit Konflikten verbunden, weil es natürlich unterschiedliche Nutzerinteressen gibt. Die Kanalsanierung ist nun eine gute Gelegenheit einen solchen Beteiligungsprozess auf den Weg zu bringen. Allerdings: Nicht immer neue Konzepte schreiben, wir müssen jetzt auch in die Umsetzung kommen.
Gleichzeitig geht es um sehr komplexe Vorhaben, wie sich zum Beispiel immer wieder bei Baumpflanzungen in der Innenstadt zeigt, wo viele technische Details zu beachten sind. In der Pause rezitiert der Bürgerchor des Schlosstheaters Auszüge aus dem Grundgesetz – letztlich auch die Grundlage für Stadtentwicklungsprozesse: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
Speed Dating sorgt für lebhaften Austausch
Beim anschließenden Speed Dating aller Beteiligten werden lebhaft erste Ideen und Vorstellungen ausgetauscht: Einrichtung eines Jugendparlaments oder eines Beirates für junge Menschen, ein „Streetworkerfür Veränderungsprozesse“, ein autofreier Neumarkt wie überhaupt Vorrang für Fußgänger*innen und Fahrradfahrer*innen. Daneben wird mehrfach darauf verwiesen, dass es notwendig ist, die bisher leisen und nicht gehörten Stimmen mit in die Planungs- und Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Damit das gelingt, sind professionelle und moderierte Beteiligungsprozesse zu gestalten. In diesem Zusammenhang bedauert die Eigentümer*innenversammlung, dass das W im Juni schließen muss, weil die Projektförderung ausläuft. Einen solchen Ort als Forum für Beteiligungsprozesse bräuchte es eigentlich dringend!
Die Eigentümer*innenversammlung markierte zwar den Schlusspunkt der Veranstaltungsreihe „Stadt machen!“, gleichzeitig wurde ein neuer Auftakt verabredet: Mit der Initiative „STADT MACHEN!“ sollen die entstandenen Impulse weiter entwickelt und Vorschläge erarbeitet werden, wie die Stadtgesellschaft in die anstehenden Entwicklungs- und Planungsprozesse für die Moerser Innenstadt substanziell mit eigenen Vorschlägen einbringen kann.
Das Laboratorium lädt ein:
Kommunale Bürgerräte – ein Beispiel für Moers?
Referenten: Thorsten Sterk, Mehr Demokratie e.V. und Arbeitsgruppe Bürgerrat des Forums für Demokratie, Respekt und Vielfalt in Haltern
Termin: Mittwoch, 11. Mai 2022, 18.30 bis 20.00 Uhr
Ort: SCI:Volksschule, Beratungs- und Begegnungshaus, Hanns-Albeck-Platz 2,
47441 Moers
Starttermin Initiative „STADT MACHEN!“
Termin: Dienstag, 24. Mai 2022, 18.30 bis 20.00 Uhr
Ort: Das W - Zentrum für urbanes Zusammenleben, Neuer Wall 2, 47441 Moers
Informationen und Anmeldungen:
Dieter Zisenis, Laboratorium c/o Evangelischer Kirchenkreis Duisburg, Mail:
dieter.zisenis@ekir.de, Mobil: 0179 758 7289.
Zum Schluss wird angestoßen mit einem Partylikör der Moerser Marke „Drano Moers – Untenrum rein“. Also los, raus aus der Blase, rein ins Vergnügen der Beteiligung mit Vielen!